Spielen im romantischen Orgelbau in Deutschland
eine bedeutende Rolle. Diese Orgelstimmen sind mit der Entwicklung des
Harmoniums eng verbunden. In diesem Zusammenhang findet Christian
Gottlieb Kratzenstein erste Erwähnung, der in St. Petersburg einen
sprechenden Automaten erfindet, worin durchschlagende Zungen nach
Vorgabe des Šêng eingebaut wurden.
Das chinesische Šêng mit durchschlagenden Zungen
ist unmittelbarer Vorläufer des Harmoniums. Es wurde etwa 2700 v.Chr.
entwickelt unter dem Kaiser Huan ti, ein Exemplar befindet sich im
gwm-Archiv Saarbrücken.
Der Orgelbauer Kirsnik entwickelte um 1780
diese Konstruktion von Kratzenstein weiter und soll als erster
durchschlagende Zungen im Orgelbau eingeführt haben. Das erste
Tasteninstrument mit durchschlagenden Zungen dürfte der Franzose
Grenié 1810 gebaut haben. Abbé Vogler machte Bekanntschaft
mit diesen Zungen durch den Orgelbauer Rackwitz und war
begeistert. In einer seiner tragbaren Orgeln „Orchestrion“ lässt er
derartige Stimmen einbauen. Diese und die Art und Weise der
Disponierung hat EFW übernommen. Auch bei Simplifikationen durch
Vogler werden durchschlagenden Zungen in Orgeln eingebaut.
Im Zeitraum 1818 bis 1820 entwickeln
Eschenbach und sein Cousin und Orgelbauer Schlimbach ein
neues Orgelregister „Clavaeoline“ und auch „Organvioline“, dann 1816 „Aeoline“,
bei dem eine freischwingende Zunge auf einem Eisenbügel geschweißt
ist, die den Ton ähnlich einer Maultrommel erzeugt. 1818 erhält
Peasele in den USA ein Patent für ein Harmonium, 1840 Debain
in Paris. Haeckels Physharmonika 1818, Dietz’ „Aeorophone“
1829, Jaquet „Mélophone“1834, Cavaille-Colls „Poikilorgue“u.a.
sind zeitgemässe Entwicklungen. 1821 werden Mundharmonika in Berlin
und Physharmonika in Wien patentiet.
Eberhard Friedrich Walcker empfiehlt 1825 bei
seiner Planung für die Paulskirche in Frankfurt besonders den Einbau
der neuen „einschlagenden“ statt der aufschlagenden Zungen, wegen des
geschmeidigeren Tones sowie der erregenden Schwellfähigkeit in
Crescendo und Decrescendo. Es werden insgesamt 4 durchschlagende
Zungen dort eingebaut: Vox humana 8’, Physharmonika 8’, Hautbois 8’
und Fagott 16’. Später kommen weitere durchschlagende Zungen in
Walcker-Orgeln vor wie: Serpent 16’ (Ped), Bassetthorn 8’, Äolodicon
16’, Fagot & Oboe 8’, Ophicleide (klarinettenartiger Klang). „Eberhard
Friedrich Walckers innovatives Wirken war ausschlaggebend für die
Einführung der durchschlagenden Zungen im Orgelbau in Deutschland“,
dies ist der Konsens der umfassenden Schrift von Thomas Gindele,
welche anlässlich des Einbaus eines Bassetthorn 8’ in die historische
E.F.Walcker-Orgel in St. Maria Göppingen (vormals Köngen Op99 Bj.
1844, II/26, mech.Kegel) die im Jahre 2002 herausgegeben wurde.
Durchschlagende Zungen klingen weicher und
obertonärmer, weniger schnarrend und sie sprechen langsamer an. Diese
Zungen benötigen ein großes Luftpolster, weswegen die Stiefel bei
tiefen Tönen bis zu dreimal größer sind als bei aufschlagenden Zungen.
Tonhöhe der Zunge hängt von Länge und Dicke ab, während die Klangfarbe
durch Breite und Form der Zunge bestimmt wird. Die Becheraufsätze oder
Resonanzkörper haben hingegen bei den durchschlagenden Zungen weniger
klanglichen Einfluss, denn der Klang wird wesentlich von Eigenschaften
der Zunge bestimmt. Daher sind die Becher relativ kurz bei
durchschlagenden Zungen oder entfallen ganz. Die hier dargestellten
Stimmplatten eines Harmoniums können direkt angeblasen oder rückseitig
angesaugt werden und ergeben ohne weitere Resonanzhilfe einen breiten
runden Ton. Es unterscheiden sich die Zungenformen sehr deutlich. Wir
kennen ein breites, abgerundetes Blatt beim Bassetthorn, was mehr
Grundtönigkeit und dunkleren Klang erreicht, gegen ein rechteckiges,
schmaleres Blatt, das obertöniger klingt.
Es gibt zwei grundsätzlich unterschiedliche
Einbauten von durchschlagenden Zungen
a)
als eigenständiges Orgelregister (Klarinettenregister), wobei
jeder Ton mit eigenem Resonanz- oder Pfeifenkörper gebaut wird. Jeder
Ton hat einen eigenen geschlossenen Pfeifenkörper. Typische Register
sind: Oboe, Fagott, Klarinette, Vox humana, Fagott & Oboe, Fagott &
Klarinette, Basson, später bei Walcker und Söhne EFW Oboë
b)
Harmoniumregister, bei denen die Stimmplatten nebeneinander in
einem separaten Windkasten untergebracht sind und keine eigenen
Becheraufsätze haben. Das Zungenmaterial entspricht dem der
Mundharmonika, dem Akkordeon oder dem Harmonium. Registernamen kommen
auch oft im Harmonium vor, wie: Aeoline, Physharmonika, Aeolodikon,
Clavaeoline, Serpent, Bassetthorn.
Bei den Harmoniumregistern (Ahrens
bezeichnet die unter a) aufgeführten Register als „Klarinettenregister“)
hat Eberhard Friedrich Walcker, wie aus seinen Zeichnungen hervorgeht,
Kanzellen gebaut, die als Resonatoren fungieren. Es finden sich auch
bei Physharmonika (Zagreb und bei den Zeichnungen) kleine
Holzkästchenaufbauten, welche diese Funktion übernehmen. Ebenso wurde
beim Serpent 16’, das bei den „Serienorgeln“ der 1880er Jahre oft das
einzige Pedalregister war, verfahren. Die Register waren für
solistischen Vortrag gedacht und wurden deshalb auch im Umfang des
gleichnamigen Orchesterinstruments gebaut. Fagott & Oboe ist eine
Registerbezeichnung für Fagott im Bassbereich, Oboe im Diskant.
Bei Ladegast treten Zungenstimmen erst ab
17 Registern auf, als erstes eine aufschlagende Posaune 16' ins Pedal,
dann folgen durchschlagende Klarinette oder Oboe 8', gefolgt von
Trompete 8' im HW. Als vierte tritt die Aeoline 16' im SW, dann kommt
die Trompete 8' ins Pedal. Trompeten grundsätzlich aufschlagend. Franz
Liszt scheint einige Registrieranweisungen für die durchschlagenden
Stimmen in der Merseburger Domorgel gemacht zu haben. So wird die
Aeoline 16' genannt mit Labial 8' und Lieblichgedackt 16' in "pp
misterioso", in Präludium und Fuge über Bach. Oder auch Gottschalg
"mit einer zarten Zungenstimme: Aeoline oder Oboe".
Das entscheidente Argument von Eberhard Friedrich
Walcker war eben, dass das Register mit niederem oder höherem, also
variablen Winddruck gespeist werden kann, ohne zu verstimmen. Diese
Dynamik war bei den kommenden Orgeln gefragt. Auch dieser „Windschweller“
war eine Erfindung des genialen Abbé Vogler. Und klar ist
natürlich, dass diese Dynamik hauptsächlich bei den Harmoniumregistern
stattfindet, wo alle Zungen im selben Windkasten untergebracht
sind. Abschwächungen können aber auch in der Registerkanzelle durch
Schieber bewerkstelligt werden. Der andere „spanische“ Weg war, Zungenregister (auf- oder
durchschlagende) in einen separaten Schwellkasten zu setzen und
auf diese Weise in der Lautstärke zu dynamisieren.
Die durchschlagenden Zungen verstimmen jedoch
noch wesentlich stärker zum übrigen Pfeifenwerk als aufschlagende
Zungen bei Temperaturschwankung, weswegen man Ende des 19.Jahrhunderts
Ersatzlösungen suchte, die teilweise mit engen labialen Pfeifen
bewerkstelligt wurden. Von der Orgelbewegung wurden die
durchschlagenden Stimmen rigoros „verfolgt“ und ausgemerzt. Damit
wurde ein erhebliches Wissen um die Anfertigung dieser Stimmen und
ihrer Klanggestaltung ebenso vernichtet.
Literatur nach Priorität:
Christian Ahrens, Physharmonika-Register in Orgeln des 19. und
20.Jahrhunderts. Ars Organi, 46 Jhg., Heft 3/1998
Stefan
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Thomas
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Friedrich Ladegasts und ihr Gebrauch, Acta Organologica Band 28,
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